Was sagen die Gelehrten über Ibn Taymiyyah? Mufti Muhammad ibn Adam al Kawthari [Darul Uloom Deoband]
Im Namen Allahs, dem Allerbarmers, des Barmherzigen,
Bevor diese Frage beantwortet wird, ist es zwingend erfordelich, zu verstehen, dass Extremismus und Übermaß nach der Scharia missbilligte Dinge sind. Der Islam ist die Religion der Mäßigung, und lehrt seinen Anhängern das Maßhalten in allen Bereichen des Lebens und allen Gesellschaftsschichten. Eine extreme Haltung in die eine oder andere Richtung widerspricht der reinen Lehre von Allah dem Höchsten und Seinem geliebten Propheten (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden).
Allah der Höchste sagt:
Der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden) sagte:
Der Islam ist folglich der mittlere Weg zwischen Übermaß und Lässigkeit. Es ist ein Weg zwischen der Härte, die man in der Scharia von Moses (Allahs Frieden auf ihm) vorfindet, wo den Menschen befohlen wurde, dass sie ihre Reue zum Ausdruck bringen mussten, indem sie sich selber töten mussten, und wo ihnen befohlen wurde, einviertel ihres Vermögens als Zakah zu entrichten und weiterer solche Dinge, und der Lässigkeit, die man in der Scharia von Jesus (Allahs Frieden auf ihm) vorfindet, wo der Alkohol erlaubt war, wo die Kleidung nicht als unrein galt, wenn Schmutz dran war und andere Dinge.
Es ist ein Weg zwischen Übertreibung und Nachlässigkeit, die man bei den verschiedensten irregegangen Sekten vorfindet. Es liegt zwischen dem Glauben derjenigen, die den Glauben an das Schicksal gänzlich ablehnten (Qadariyya), und denjenigen, die meinten, dass das Schicksal gänzlich die Taten der Menschen kontrolliert. Der Weg liegt zwischen den Ideologien der Khawarij (die jeden Sünder als Nichtmuslim ansahen) und der Murjiya (die meinten, dass die Sünden keinen Schaden beim Menschen verursachen können), und er liegt zwischen dem Standpunkt der Anthropomorphisten (Mushabihha), die die Eigenschaften Allahs mit denen Seiner Schöpfung verglichen, und denjenigen, die komplett alle Eigenschaften von Allah dem Höchsten ablehnten (Mutazila).
Es ist auch eine Religion, die zwischen Gesetz und Spiritualität liegt, zwischen Intelligenz und Liebe. Es lehnt das Konzept der Juden, dass jegliches Ding auf Intellekt und Schlussfolgerung basiert, ab, und lehnt ebenfalls das Konzept der Christen ab, das besagt, dass jegliches Ding auf Liebe und Zuneigung basiert. Stattdessen lehrt der Islam seinen Anhängern die Kombination zwischen den Wegen des Iman und Ihsan und den Wegen des Gesetzes und der Spiritualität.
Dies ist der gerade Weg, welcher in der eröffnenden Surah des Qur’ans erwähnt wird, und die wir täglich in unseren Gebeten rezitieren: „Führe uns den geraden Weg“ (Al-Fatiha 1:6).
Folglich ist es entscheidend, eine gemäßigte Einstellung in allen Aspekten der Religion zu haben. Leider werden die Menschen in die eine oder andere Richtung extrem. Einige beachten nur die äußere Bedeutung des heiligen Gesetzes, sodass sie die spirituelle und innere Dimension der islamischen Regeln ablehnen, wohingegen andere glauben, dass Liebe und Spiritualtät alles sei. Beide Einstellungen sind, wie eben dargestellt, nicht korrekt.
Zu Imam Ibn Taymiyya (Allah möge gnädig zu ihm sein) ist zu sagen, dass gewisse Muslime ihn als jemanden darstellen, als sei er das Beste, was der islamischen Geschichte passieren konnte. Er wird als Schaykh al-Islam betrachtet, sodass seiner Meinung mehr Priorität gegeben wird, als die Meinung aller Mujtahid Imame. Sie sehen ihn als jemanden, der immun dagegen ist, irgendwelche Fehler zu begehen, sodass folglich seine Meinung als das letzte und absolute Verständnis des Islams betrachtet wird. Im Gegensatz dazu gibt es einige Muslime, die ihn als ernsthaft irregeleitet betrachten, der komplett außerhalb der Ahl al Sunnah wa al-Jamaah steht.
Einige gehen sogar so weit und betrachten ihn als jemanden, der sogar außerhalb des Islams steht!
Einmal fragte mich ein Bruder, was ich über Imam Ibn Taymiyya (Allah möge gnädig zu ihm sein) denke, und ich antwortete ihm, indem ich sagte, dass ich seine Schriften anerkenne und ihn respektiere, obwohl ich mit einigen seiner Ansichten nicht einverstanden bin. Dann fragte er mich, was ich über Schaykh Ibn al-Arabi (Allah möge gnädig zu ihm sein) denke, und ich antwortete ihm, dass er einer der größten Autoritäten des Islams hinsichtlich Spiritualität und Ihsan ist. Der Bruder sagte: „Wie ist es möglich, dass du beide Persönlichkeiten respektierst? Entweder mag man Imam Ibn Taymiyya und lehnt Schaykh Ibn al-Arabi ab, oder man stimmt den Ansichten von Schaykh Ibn al-Arabi zu und lehnt Imam Ibn Taymiyya ab.“ Ich sagte: „Ich muss dir leider sagen, dass ich beide Persönlichkeiten mag und respektiere, ob du es magst oder nicht.“
Ich erklärte, dass es keine zwei Lager gebe, denen ich mich zuordne, sodass wenn ich mich einem Lager zuordne, automatisch dem einen Lager den Rücken kehren müsste.
Tatsache ist, dass es einige Muslime gibt, die Takfir auf Schaykh Ibn al-Arabi sprechen, und Imam Ibn Taymiyya als den größten Gelehrten der Geschichte betrachten, wohingegen andere Ibn Taymiyya als Kafir betrachten und Schaykh Ibn al-Arabi als die größte Autorität in allen Bereichen des Islams betrachten. Beide Ansichten sind unausgewogen und unkorrekt.
Die Haltung der Mehrheit der Gelehrten dieser Ummah der vergangen und gegenwärtigen Zeit ist, dass sie ihn als einen Gelehrten respektieren und seine Schriften anerkennen, jedoch einigen seiner bestimmten Ansichten widersprachen, wo er dem allgemeinen Verständnis der Gelehrten der Ahl al-Sunnah wa al-Jammaah widersprach. Diese Ansicht wird von den meisten gegenwärtigen Gelehrten der muslimischen Welt, dem indischen Subkontinent und der arabischen Welt, vertreten.
Imam Taqi al-Din ibn Taymiyya al-Harrani war ein bekannter hanbalitischer Gelehrter in der Qur’anexegese, Hadithwissenschaft, und im Fiqh.
Er war mit einer fesselnden Schreibweise, einem starken Gedächtnis ausgestattet und er war ein redegewandter Schreiber, dessen Schriften viel an der Zahl sind. Seine Fatawa wurden in mehreren Bänden gedruckt und seine Schriften über die Schiiten und anderen Themen sind unvergleichlich. Viele Gelehrte wie Imam Dhahabi und andere rühmten ihn mit großen Worten.
Trotzdem hatte der Imam große Fehler in einigen Angelegenheiten hinsichtlich der Aqida und Fiqh. Er nahm bestimmte Positionen im Fiqh an, die dem allgemeinen Verständnis der Gelehrten der vier Rechtschulen widersprachen. Er befolgte hauptsächlich die hanbalitische Rechtschule, aber hatte Ansichten, die dem allgemeinen Verständnis der Hanbaliten widersprachen. Deshalb betrachten die Gelehrten ihn nicht als letzte Autoritität in dieser Rechtschule.
Ebenso verursachten einige seiner Ansichten hinsichtlich der Aqida Kontroversen, die in al-Aqida al-Wasitiyya erwähnt werden. Er wurde mit Recht von Gelehrten wie Imam Subki, Ibn Hajar al-Haytami und anderen widerlegt. Er stimmte mit anderen Gelehrten in bestimmten Punkten nicht überein, wie z.B der Erlaubnis des Tawassuls, dem Reisen zum Grab des Gesandten Allahs (Allahs Segen und Friede auf ihm) und anderen Punkten. Seine Ansichten zu den Eigenschaften Allahs dem Höchsten hatten zur Folge, dass er in Kairo und Damaskus eingesperrt wurde, und die Gelehrten ihn auf seine Fehler hinwiesen.
Einer der großen des Hadiths und der islamischen Glaubenslehre aus dem indischen Subkontinent, Imam Anwar Shah al-Kashmiri (Allah möge gnädig zu ihm sein), widerlegte Imam Ibn Taymiyya in vielen seiner Schriften, unter anderem in seinem Kommentar zu Imam Bukharis Sahih, Faydh al-Bari.
In einem seiner Schriften in Urdu schreibt er: “Ibn Taymiyya und andere kamen dem Anthropomophismus nah, da sie die wörtliche Bedeutung einiger Verse des Qur’ans nahmen.“
Weiter schreibt er, dass Imam Ibn Taymiyya und Ibn al-Qayyim (sein Schüler) von mal zu mal authentisch, gesicherte Überlieferungen ablehnten, wenn sie ihrer eigenen Ansicht widersprachen.
Dafür gibt es viele Beispiele. Imam Ibn Hajar al-Asqalani verurteilte Ibn Taymiyya dafür, dass er authentische Überlieferungen ablehnte, wenn sie seiner Ansicht widersprachen. Nachdem Schaykh Abd al-Aziz al-Dehlawi (Allah möge gnädig zu ihm sein) Ibn Taymiyyas Minhaj al-Sunnah studierte, war er sehr besorgt über dessen Untergrabung (undermining) der Ahl al-Bayt und der Sufis.
Imam Anwar Shah al-Kashmiri erwähnte dann, dass sein Lehrer Schaykh Mawlana Husayn Ahmad al-Madani (Allah möge gnädig zu ihm sein) eine strenge Haltung gegen Ibn Taymiyya einnahm. Er verabscheute es sogar, dass der Titel „Schaykh al-Islam“ für ihn benutzt wird.
Deshalb wurde er sehr verärgert, als Schaykh Muhammad Zakariyya al-Kandahlawi (Allah möge gnädig zu ihm sein) diesen Titel für Imam Ibn Taymiyya in einem seiner Schriften verwendete.
Er sagte weiter, dass die ausgewogenste Ansicht zu Imam Ibn Taymiyya die Ansicht von Imam Dhahabi, Imam Ibn Hajar al-Asqalani und anderen ist, da sie die Ansicht vertraten, dass man großen Nutzen von seinen großartigen und ausführlichen Werken ziehen kann, aber vorsichtig sein sollte bei Punkten, wo Ibn Taymiyya sich mit seinen Ansichten hinsichtlich der Fundamente und spezieller Fiqhfragen von den Gelehrten isolierte. Dies ist die Ansicht unserer (Deoband) Gelehrten . (Malfuzat Muhaddith Kashmiri, P: 413-414)
Schaykh Taqi Usmani (Allah möge gnädig zu ihm sein) erwähnte eine ähnliche Haltung zu Imam Ibn Taymiyya. Er sagt: „Bei allem Respekt gegenüber ihrem hohen Status und Rang. Über Allama Ibn Hazm, Allam Ibn Taymiyya und Allama Ibn al-Qayyim ist zu sagen, dass sie bestimmte Ansichten vertraten, die gegen die allgemeine Haltung der Gelehrten dieser Ummah standen.“ (Fiqhi Maqalat, 2/21)
Einer der berühmtesten Gelehrten der Welt, Schaykh Abul-Hasan al-Nadwi (Allah möge gnädig zu ihm sein) widmete ein ganzes Kapitel in seinem Werk dafür, um über das Leben und die Errungenschaften Ibn Taymiyyas zu berichten.
Das berühmte arabische Werk Rijal al-Fikr Wa al-Dawa des ehrenwerden Schaykhs berichtet über das Leben und die Leistungen von Personen wie Umar ibn Abd al-Aziz, Hasan al-Basri, Imam Ahmad ibn Hanbal, Imam Abu al-Hasan al-Ashari, Imam al-Ghazali, Jalal al-Din al-Rumi und anderen, und ebenso von Ibn Taymiyya. Dies bringt uns wieder zurück zur ausgewogenen Ansicht, denn Schaykh Nadwi reflektiert über das Leben und die Werke dieser großen Sterne auf dem Feld der islamischen Spiritualität (Tasawwuf) und hat dennoch Platz für Ibn Taymiyya in seinem Werk.
Dieselbe Haltung wurde auch von vielen arabischen Gelehrten angenommen.
Der späte berühmte Gelehrte der hanafitischen Rechtschule Imam Muhammad Abu Zahra (Allah möge gnädig zu ihm sein) aus Ägypten schreibt in seinem Tarikh al-Madhahib al-Islamiyya:
„Der Gründer der wahhabitischen Bewegung Muhammad Ibn Abd al-Wahhab studierte die Werke von Imam Ibn Taymiyya tiefgründig, und wurde extremer. Er machte die Ansichten Ibn Taymiyyas zu Realtität, anstatt sie Theorie sein zu lassen. Deshalb zerstörten sie die Gräber der Sahaba und erweiterten die Bedeutung von Bida in einer Weise, die so noch nie zuvor gehört wurde.“ (Tarikh al-Madhahib al-Islamiyya, P: 199)
Nachdem das obere geschrieben wurde, widmete derselbe Autor (Imam Abu Zahra) ein ganzes Band für die Erwähnung über das Leben und die Werke Ibn Taymiyyas. Er stellte erst eine Serie zusammen, wo er Licht auf das Leben und den Werken der vier Mujtahid Imame (Abu Hanifa, Schafii, Malik und Ahmad) bringt, und stellte danach eine andere Serie, bestehend aus vier Büchern, zusammen, wo er über das Leben der anderen Gelehrten berichtet, einschließlich Ibn Taymiyya.
Imam Zahid al-Kawthari (Allah möge gnädig zu ihm sein) ist berühmt für sein Hanafismus, Sunnismus und seiner Widerlegung der Wahhabiten.
Dennoch bezieht sich einer der wichtigsten Schüler Schaykh Abd al-Fattah Abu Ghudda (Allah möge gnädig zu ihm sein) nicht nur auf Ibn Taymiyya und zitiert ihn, sondern bearbeitete und veröffentlichte eines seiner Werke mit dem Titel “Risalat al-Halal Wa al-Haram”, und auf dem Deckblatt des Buches erwähnt er den Namen von Ibn Taymiyya mit dem Titel Schaykh al-Islam.
Viele andere gegenwärtige Großgelehrte der arabischen Welt aus Damaskus und anderswo haben dieselbe Haltung. Gelehrte wie Schaykh Muhammad Said Ramadhan al-Buti, Schaykh Wahba al-Zuhayli, Schaykh Mustafa al-Bugha, Schaykh Mustafa al-Khin, Schaykh Abd al-Latif al-Farfur und andere zitieren häufig Ibn Taymiyya in ihren jeweiligen Schriften, jedoch mit Vorsicht und Einsicht, und sie warnen andere vor den isolierten und kontroversen Meinungen Ibn Taymiyyas.
Zusammenfassend sagen wir deshalb, dass wir eine ausgewogene Ansicht zu Ibn Taymiyya vertreten, indem wir seinen ernormen Dienst für die Religion anerkennen. Wir akzeptieren seine Fähigkeiten und ziehen Nutzen aus seinen Werken, die in Übereinstimmung mit der Hauptmeinung der Ahl al-Sunnah wa al-Jamaah und dem sunnitischen Islam sind, und wir lehnen das ab, was nicht in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Gelehrten dieser Ummah ist. Wir respektieren ihn als einen Gelehrten, und verurteilen ihn nicht völlig, aber wir betrachten ihn nicht als eine Autorität in Punkten des Glaubens, der Fundamente und der islamischen Rechtsprechung. Wie überlassen seine kontroversen Ansichten und Meinungen hinsichtlich der Aqida Allah dem Höchsten und konzentrieren uns auf die Dinge, die wir lernen und wissen müssen. Dies ist die faire und ausgewogene Ansicht der Mehrheit der Gelehrten hinsichtlich seiner kontroversen Person.
Und Allah weiß es am besten.
Muhammad ibn Adam al-Kawthari
übersetzte Version aus dem Ahlu-Sunnah.de Forum:
http://qa.sunnipath.com/issue_view.asp?HD=10&ID=4851&CATE=22